Von Kolonialität und Ungehorsam

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00:00:27: Arno Görgen Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen bei Design. Macht. Gesellschaft., dem Designforschungspodcast des Institute of Design Research an der HKB Bern. Ich bin Arno Görgen.

00:00:40: Eliane Gerber Und ich bin Eliane Gerber. Der Schwerpunkt dieser Staffel ist die Ethik des Designs, die Frage nach einem Design, das zu einem gelingenden Leben beiträgt, moralisch reflektierend ist und besonders wichtig zu einer kritischen Selbstreflexion und einer damit verbunden Anpassungsfähigkeit ausgestattet ist. Unser Thema heute: Design und Kolonialismus.

00:01:04: Arno Görgen Design war ja historisch gesehen eigentlich immer auch ein Werkzeug des Kolonialismus, also Fahrzeuge, Waffen, Infrastrukturen, vielleicht auch Militäruniformen, Propagandaplakate, all das. Das sind ja designte Artefakte, die Herrschaft in und über Kolonien ermöglichen und festigen. Und auch heute noch ist Design kolonialistisch geprägt. Warenketten und Wertschöpfungsketten zu designten Produkten sind hoch vernetzt und tragen zu Machtgefällen zwischen den Consumer*innen des reichen globalen Nordens, sofern man den Begriff so noch nutzen kann, und den Rohstofflieferant*innen und Produzent*innen des globalen Südens bei. Und der inherente Wert, den wir Objekten und ihren Erzeuger*innen beimessen, woher sie stammen, die Materialien, aus denen sie hergestellt werden, schaffen eine Trennung zwischen den Verbraucher*innen der Objekte und der kolonisierten Gesellschaft. Heute wirkt der Neokolonialismus im Design auf zwei Arten: Er installiert einerseits eine eurozentristische Ästhetik und integriert dazu aber auch Designs der Subalterne, also derjenigen, die diesen ungleichen Machtgefügen ausgesetzt sind.

00:02:21: Eliane Gerber Es ist also ein zutiefst ethisches Thema und auch ein hochpolitisches Thema. Und wenn man Politik und Design in einem Satz nennt, ist man ganz schnell bei unserer heutigen Gesprächspartnerin, bei Mara Reklies. Mara Reklies hat in Kiel Philosophie, Kunstgeschichte und neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft studiert, an verschiedenen Universitäten Designethik, Designphilosophie, Design-Geschichte und Design-Theorie gelehrt und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Designwissenschaften der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle und promoviert an der Humboldt Universität zu Berlin mit einer Arbeit über philosophische Designkritik im 20. Jahrhundert. 2018 erschien der mit von ihr herausgegebene Sammelband „Archive dekolonialisieren: Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film. Und auch in ihrer Lehre beschäftigt sie sich immer wieder mit dem Thema Kolonialismus und Design. Herzlich willkommen, liebe Mara.

00:03:21: Mara Reklies Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr, bei euch zu sein.

00:03:25: Eliane Gerber Starten wir doch gleich mit der ersten Frage: Was hat Design mit Kolonialisierung und Rassismus zu tun?

00:03:32: Mara Reklies Sehr viel und ich würde da gerne, um zu erklären, wo der Zusammenhang ist, zumindest aus der Perspektive meiner Forschung, mit deiner Einleitung beginnen. Du hast ja schön gesagt, dass ich mich mit Design und Kolonialismus beschäftige und das ist nur halb richtig. Es ist nämlich so, dass ich mich nicht mit Kolonialismus beschäftige, sondern ich beschäftige mich mit Kolonialität. Ich erkläre einmal ganz kurz, was der Unterschied ist. Die Unterscheidung zwischen Kolonialismus und Kolonialität, die habe ich aus der lateinamerikanischen dekolonialen Theorie übernommen. Die wurde ursprünglich von dem peruanischen Soziologen Aníbal Kehano getroffen, der gesagt hat, dass auch nach dem Ende des Kolonialismus, das heißt dieser Epoche des Kolonialismus, die so vom 16. Jahrhundert bis zu den Weltkriegen geht, koloniale Strukturen weiter existieren. Und diese kolonialen Strukturen, die den Kolonialismus, das heißt die historische Epoche selbst überdauern, die nennt man Kolonialität. Und es wird in der dekolonialen Theorie so beschrieben, dass quasi die Kehrseite der Moderne, auch der Kolonialzeit die Kolonialität ist, die eben fortbesteht. Und diese Kolonialität im Design sichtbar zu machen, darauf zielt meine Forschung ab. Und ich habe dabei noch mal eine bestimmte Perspektive: Ich beschäftige mich mit der Kolonialität der Theorie. Das heißt, ich beschäftige mich zum Beispiel mit der Vorstellung von gutem Design, von guter Form, guter Gestaltung, bestimmten Paradigmen und Dogmen, die mit Design einhergehen, die etabliert sind in der Disziplin, und überprüfe, inwiefern findet man dort diese Kolonialität? Woran zeigt die sich? Das ist mein Forschungsgegenstand, die Kolonialität des Designs, streng genommen und nicht Design und Kolonialismus.

00:05:36: Eliane Gerber Vielen Dank für diese Erklärung. Jetzt sind wir ja drei weiße Personen, die dieses Gespräch führen. Was macht das in diesem Kontext oder wie müssen wir das auch kontextualisieren?

00:05:49: Mara Reklies Das ist ganz entscheidend. Das prägt unsere Perspektive gerade. Das prägt den Blickwinkel, den wir haben. Damit sind wir im Grunde schon sehr tief in der dekolonialen Theorie. Wie gesagt, ich arbeite mit der lateinamerikanischen dekolonialen Theorie sehr viel und dort wurde formuliert, zum Beispiel von dem argentinischen Literaturwissenschaftler Walter Minolo, dass man von dort aus denkt, wo man ist. Das heißt, das Wissen, das wir produzieren, Wissen, das wir vermitteln, Wissen auch, das wir validieren, das wir anerkennen, ist ganz stark von dem Standpunkt abhängig, den wir einnehmen. Insofern ist es ganz zentral, dass ich auf das Thema eine weiße Perspektive habe. Es ist auch in diesem Forschungskontext ganz wichtig, sich selber zu positionieren und eben das anzuerkennen. Es ist zum Beispiel ein typisches Merkmal von Kolonialität, dass weißen oder westlichen, europäischen Menschen einer bestimmte epistemische Autorität lange zugesprochen wurde. Das heißt, dass das Wissen, das sie produziert haben, das Wissen, das sie weitergeben, als das universelle Wissen galt, das allgemeingültige, auch das objektive, neutrale oder ich sage mal so in Anführungsstrichen ebenfalls, das normale Wissen war. Und das Wissen von anderen Menschen war eben das Wissen, das von diesem weißen Wissen überschrieben werden musste. Jetzt ist es so, dass in dem Kontext der dekolonialen und auch postkolonialen Theorie gibt es sehr viele Wissensbestände von People of von Colour, von schwarzen, von indigenen Menschen, dass plötzlich ebenbürtig ist und dass auch selbstverständlich die Kapazität zugesprochen wird, ebenbürtig zu sein, zu weißen Wissen und es ist ein absolut berechtigter und auch häufig gemachter Hinweis, dass es sehr wichtig ist, dass dieses Wissen nicht schon wieder von weißen Menschen epistemisch vereinnahmt oder ausgebeutet wird. Es ist etwas, was ich oft beobachte, dass eben weiße Menschen oder auch Menschen, die sich der europäischen Denkkultur verpflichtet fühlen, sagen: „Oh, wenn ich mich jetzt mit dekolonialer oder postkolonialer Theorie beschäftige, dann geht es ja darum, dass ich mal als weißer Mensch schweige und das heißt, mal nicht meine Theorien, mal nicht meine Perspektive einbringe, sondern quasi nur noch zitiere. Was hat eine schwarze Person gedacht? Was ist eine Indigene Theorie? Und dadurch wiederholt sich etwas was, was eigentlich gerade überwunden werden soll, nämlich, dass schon wieder weiße Menschen sich an theoretischen Beständen anderer Menschen bedienen. Und für mich ist es ein ganz wichtiges Anliegen, genau das nicht zu machen und genau das zu verhindern. Und deshalb habe ich eine sehr spezifische Forschungsperspektive, die ich eben als eine weiße Perspektive bezeichnen würde. Was nicht heißt, dass nicht weiße Personen das nicht auch machen können. Selbstverständlich können sie das und sind auch eingeladen, das zu tun, aber ich sehe eben meine Arbeit nicht darin, zum Beispiel afrikanische Theorie oder indigene Theorie aus dem heutigen Brasilien irgendwie in Deutschland zu verbreiten, sondern ich sehe das als meine Verantwortung, die eigenen Bestände anzuschauen. Das heißt zum Beispiel die deutsche Design-Geschichte, die deutsche Design-Theorie oder die deutschsprachige, und zu schauen, was wird da artikuliert? Also, woran erkennt man die koloniale Prägung an dieser Theorie? Wie wird die sichtbar? Inwiefern schleppen wir diese kolonialen Splitter noch immer, die zum Teil wahnsinnig verkapselt sind, die man nicht erkennt? Ich kann gleich noch mal Beispiele geben, inwiefern tragen wir die noch herum? Und das ist für mich eine konkrete Arbeit, die man damit macht. Es gibt so eine Redewendung, dass Dekolonisierung eben kein Thema ist, sondern das ist eine Tätigkeit. Das ist eine konkrete Arbeit, die gemacht werden muss und ich sehe es als meine Verantwortung, insbesondere weil ich in Deutschland geboren bin. Ich bin eine weiße Person, diese Dekolonisierung an unseren Beständen zu machen und ich finde es persönlich unglaublich anmaßend, wenn zum Beispiel weiße Menschen sagen, das ist jetzt eine Aufgabe von so BIPOC, wie man sagt, also Black Indigenous oder People of Colour, die sollen jetzt bitte kommen, sollen sich unsere rassistischen Bestände angucken und sagen, was Kolonial ist. Nein, das ist eine Aufgabe, die sollten wir tun, die müssen wir tun. Das ist unsere Verantwortung und das ist sehr wichtig zu verstehen, dass die Dekolonisierung ein Prozess ist, auch im wissenschaftlichen Kontext, an dem alle teilhaben müssen. Also so ein bisschen, so wie Feminismus ja auch eine gesamtgesellschaftliche Bewegung zur Überwindung des Patriarchats ist und nicht etwas, was nur von Frauen ausgehen sollte oder nur von Männern oder Flinta. Und genauso muss man sich das mit der Dekolonisierung stellen. Walter Minolo, den ich gerade schon mal zitiert hatte, und der hat gesagt, dass Dekolonisierung eine doppelte Tätigkeit ist, die einmal die ehemals Kolonisierten betrifft, dass die dekolonisiert werden, aber eben auch die Ahnen der ehemaligen Kolonisator*innen, auch die müssen kolonisiert werden. Das heißt, auch wir weiße Menschen, gerade die ja noch in diesen Strukturen leben, mit diesen Institutionen, die ja maßgeblich involviert waren in den Kolonialismus, auch wir müssen uns dekolonisieren. Und deshalb ist es ganz wichtig, dass wir diese Arbeit machen und dass wir darüber reflektieren, was ist unsere Aufgabe, als weiße Person an der Dekolonisierung teilzuhaben, ohne eben Form von epistemischer Ausbeute weiterhin zu etablieren oder dem nachzugehen. Es ist, wie gesagt, ein großes, großes Missverständnis, dass weiße Menschen in diesem Diskurs nichts machen dürfen oder nicht beizutragen haben. Und meiner Erfahrung nach, wenn weiße Menschen glauben, das ist jetzt ihre Aufgabe, nur zu schweigen und still zu stehen und gar nichts mehr zu tun, wird das sehr, sehr unangenehm. Ich habe schon Formate erlebt von Hochschulen, die dann gesagt haben, wir möchten jetzt auch mal dekoloniale Theorie machen und dann gibt es Vortragsreihen, wo dann einfach deutlich weniger privilegierte Menschen von irgendwo auf der Welt via Zoom eingeladen werden zu wahnsinnig schlecht bezahlten Vorträgen und die Institutionen können sich zurücklehnen und werden so schön dekolonisiert und können auch sagen, wir machen auch was Dekoloniales und tatsächlich werden damit aber nur Strukturen reproduziert. Das genügt eben nicht. Also dieses passive Zuhören, dieses „Ich lehne mich zurück und jetzt kommt eine Person of Color oder eine schwarze Person und dekolonisiert uns, das ist ein großes Problem. Das darf nicht sein, sondern wir alle müssen konkret da eine dekoloniale Arbeit tun.

00:12:53: Arno Görgen Wenn ich dich jetzt so höre, ich bin einfach jetzt kein Experte in dem Gebiet selbst, aber ich habe den Eindruck, dass diese Beschreibung des wissenschaftlichen Subjektes, was, so wie ich dich verstanden habe, zentral ist für eine dekolonialistische Praxis, dass das etwas ist, was ja grundsätzlich eigentlich in allen Kultur-, Geistes-, medienwissenschaftlichen Feldern im Moment ein ganz wichtiger Schritt ist. Also auch diese Anerkennung, dass objektives Wissen in diesem Sinne eigentlich auch gar nicht möglich ist, also dass das auch bis zum Forschenden, zum Projekt hingeht. Jetzt wäre meine Frage: Ist das etwas, was in ähnlicher Weise dann auch für die Designpraxis gelten muss?

00:13:44: Mara Reklies Ja, mit Sicherheit. Als Person aus der Theorie, als Philosophin, Designwissenschaftlerin, wie auch immer man das formulieren möchte, bin ich natürlich nur begrenzt in der Lage, Fragen zur Designpraxis zu beantworten. Beziehungsweise mir ist es wichtig, dass die Tipps zur Praxis aus der Praxis kommen. Ich finde das immer problematisch, wenn Theoretiker in der Praxis solche Ratschläge geben, aber man kann es durchaus sagen, dass es mit Sicherheit so ist, dass bestimmte Formen, zum Beispiel von ästhetischer Autorität, die europäisches Design zum Beispiel oder konkret Design aus dem deutschsprachigen Raum sehr lange hatte, dass das aufgebrochen werden muss. Es gibt ein Konzept, das ist auch im Kontext von Walter oder im Umfeld von Walter Minolo entstanden, der für die theoretische Ebene das Konzept des epistemischen Ungehorsams entwickelt hat. Das heißt, ein Ungehorsam gegen diese westlichen Denktraditionen, Ontologien, Methodologien und so weiter. Und der das erweitert hat und gesagt hat, es gibt auch Formen des ästhetischen Ungehorsams. Und insbesondere die Geschmacks-und Formenlehre, die wir im deutschsprachigen Raum im Design haben, trägt eine ganz klar koloniale Prägung. Man kann das zurückverfolgen, wirklich bis ins 17. Und 18. Jahrhundert, wo es die ersten Formenlehren gibt, in denen es immer darum geht, quasi eine Formsprache zu etablieren, die natürlich einmal emblematisch für die Moderne ist, aber nicht nur emblematisch für die Moderne oder für das, was fortschrittlich sein soll, sondern auch ganz klar auf eine Abgrenzung zu den in Anführungsstrichen, ich möchte das betonen, ich benutze Triggerwarnung, problematische Begriffe in Anführungsstrichen, eben benennen zu können, was das Problematische ist. Also von den "Unzivilisierten", den "Wilden", sich abgrenzen zu können die zum Beispiel sich einer ornementalen Tradition verpflichtet fühlen, einer bestimmten Farbgebung viel bunteren – das kann man ja nicht in einen Topf werfen – und also in Europa ist es ja tatsächlich so, dass dann die Formensprache immer reduzierter wurde und das zielt ganz klar auf eine Abgrenzung ab. Man kann das sehr schön sehen, zum Beispiel im Kontext der ersten Weltausstellung, die ja auch im Design noch immer verhandelt wird oder diskutiert wird als ein Treffen eigentlich von Industrienationen, wo es darum ging, den Handel anzukurbeln und dabei wird weggelassen, das war auch eine Völkerschau. Also dort sind Puppen ausgestellt worden, aber dort sind auch Menschen ausgestellt worden, gefangene oder versklavte Menschen aus den Kolonien. Und es ging darum, auch so eine Art Hierarchie zu etablieren. Welches Design ist schon fortgeschritten? Welches ist zivilisiert? Wie gestaltet der moderne zivilisierte Mensch? Wie gestaltet der unzivilisierte Mensch? Und um diese Unterscheidung, die natürlich erdacht ist, überhaupt treffen zu können, musste festgelegt werden: Wie sieht eine entwickelte, fortgeschritte, zivilisierte Ästhetik aus? Wie sieht so eine Formsprache aus? Und es gibt sehr rassistische Texte, die im Design das sehr schön auf den Punkt bringen. Mein Lieblingsbeispiel in dem Kontext ist immer der Text von Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, der noch immer sehr häufig rezipiert wird, ohne überhaupt zu thematisieren, dass es ein unglaublich rassistischer, kolonialer Text ist. Und die These dieses Textes ist, ich fasse die einmal kurz zusammen, ist, dass Menschen in Papua, was auch hochproblematisch ist, Neuguinea, das ist eine deutsche Kolonie, also es ist ein Skandal eigentlich, dass dieser Text in Deutschland noch gelesen wird über Menschen in ehemaligen Kolonien, in denen sie auf eine dermaßen rassistische Art beschrieben werden. Die würden noch Ornamente brauchen, die können noch nicht anders gestalten, die können noch nichts anderes schön finden. Das sind keine Verbrecher, wenn die noch Ornamente benutzen, weil sie eben noch nicht auf dem zivilisatorischen Niveau der weißen Menschen sind, aber der weiße, europäische oder der deutsche Mensch, Adolf Loos war Wiener, der braucht Ornamente nicht mehr. Es sei denn, er ist ein in Anführungsstrichen "Degenerierter" oder ein "Verbrecher" oder Kinder würden auch noch sich zu ornamentalen Sachen hingezogen fühlen. Und da gibt es ganz klar eine Hierarchisierung von Formsprachen. Und die entwickelte, die zivilisierteste Form der Gestaltung ist dieser reduzierte Stil, der dann quasi in Deutschland zum Funktionalismus geworden ist. Und das Interessante ist, dass bis heute, wenn ich mit Studierenden spreche und sie fragen: „Was ist ein guter Stil? Was ist gute Gestaltung? Sofort kommt dieser Stil, sofort. Also das ist der Inbegriff des modernen fortgeschrittenen Stils, der auch zeigt, man ist kultiviert, man ist ästhetisch gebildet und so ornementale Sachen gelten dann eben rassistischerweise als „kitsch" oder auch gleich wird dann der rassistische Begriff „ethno" dafür gebraucht. „Ethno" ist alles, was nicht diesem Begriff entspricht. Also egal, ob es asiatischen, afrikanischen oder amerikanischen Ursprungs ist so: Alles, was nicht unsere moderne Formsprache ist, ist „ethno" und muss dementsprechend modernisiert werden, an diese Formsprache angepasst werden. Und das Interessante ist, wenn ich mit Studierenden spreche und sie fragen: „Warum ist das denn so? Warum ist denn dieser eine Stil?" der dann interessanterweise oft mit dem Bauhaus assoziiert wird. Was eben auch falsch ist, ist der Funktionalismus, der sich dann zum Beispiel aus diesem Diskurs, der unter anderem auch von Adolf Loos angestoßen wurde, der reicht noch weiter zurück, aber Adolf Loos hat ihn maßgeblich beeinflusst mit diesem Text „Ornament und Verbrechen". Und dann hat der Deutsche Werkbund eben diese Initiative, die gute Form gehabt, wo es dann auch wieder diese reduzierten Formen ging. Und da kann man sehr schön sehen, wie Kolonialität funktioniert. Am Ende ging es nicht mehr darum, sich abzugrenzen von den „weniger zivilisierten" oder so was. Das hat sich wie verselbständigt, aber es hat noch immer diesen kolonialen Ursprung. Und das ist das Interessante, dass man sehr weit in die Vergangenheit zurückgehen muss, um überhaupt zu verstehen, wo stehen wir gerade und warum ist es plötzlich so, dass die ganze Welt so eine Art stilistische Vereinheitlichung erfährt, die ja völlig absurd ist. Also alle, die viel reisen mit Airbnb oder so kennen das. Überall auf der Welt sind die Wohnungen im Skandi-Style. What the fuck? Es ist einfach egal, egal wo wir sind. Es ist immer skandinavisches Design, das ist guter Stil, das weiß man. Es ist ganz klar, so wie wir wissen. Apple, das ist guter Stil, das weiß man aus der Apple-Werbung oder was. Das ist verrückt, aber das sind einfach so Überzeugungen und die sind insbesondere im Design komplett internalisiert. Und wenn ich mit Studierenden darüber spreche, wie das passiert ist und warum das so sind die wirklich zutiefst erschüttert, insbesondere wenn die erst am Ende ihres Studiums damit in Kontakt kommen. Und diese ganzen Designparadigmen, die eben darauf hinauslaufen, dass man sehr axiomatisch irgendwann gesagt hat, aufbauend aus dieser Überzeugung, ein reduzierter Stil ist ein guter Stil, ist ein fortschrittlicher Stil und die das nie hinterfragt haben, aber das halt lernen mussten und dann lernen sie Ende ihres Studiums, die Gründe, warum sich das so entwickelt hat. Das führt zu ganz tiefgreifenden Krisen. Und damit komme ich jetzt zur etwas langen Antwort dieser Frage, zum Beispiel Formen wie den ästhetischen Ungehorsamen, von dem ich gesprochen habe, wo gesagt wird, man kann auch gezielt zum Beispiel in der Designpraxis dagegen vorgehen und sagen: „Ich gestalte anders. Ich beuge mich nicht diesen bestimmten Vorstellung eines guten Geschmacks oder einer guten Formgebung und ich schaue eben, wie geht es anders?"

00:21:59: Eliane Gerber Kannst du vielleicht über dieses „Anders" oder auch, wie man dazu kommt, in dieses "Andere" zu kommen und zu was für Formen? Das würdest du vielleicht noch ein bisschen mehr sagen?

00:22:09: Mara Reklies Ich glaube, das ist ganz unterschiedlich. Ich glaube, dass es grundsätzlich sehr auf das Projekt ankommt. Ich glaube auch, die Art und Weise, wie Designerinnen überhaupt zur Formgebung ihrer jeweiligen Gegenstände kommen, ist natürlich auch sehr verschieden und wie gesagt, ich bin nicht in der Designpraxis. Ein Beispiel, das mir einfällt: Es gibt eine Studentin, die hat eine Masterarbeit geschrieben, die inspiriert war von diesem Konzept des ästhetischen Ungehorsams. Und ich weiß ihren Namen gerade nicht. Ich reichte mal nach. Das ist mir wichtig, dass der noch erscheint irgendwie im Kontext des Podcasts. Die hat sich auf jeden Fall damit beschäftigt, dass Porzellan immer rein weiß sein muss. Und das geht mit bestimmten ökologischen Problemen einher, weil es eben sehr viele Ressourcen verbraucht. Und wenn man nur sagen würde, Porzellan ist nicht rein weiß, sondern hat ein etwas "schmutzigeres weiß" in Anführungsstrichen, dann wäre das viel Ressourcenschonender das herzustellen. Und die hat ein Porzellan entworfen, das eben nicht rein weiß ist. Und ich fand das total interessant, dass einfach nur diese Überlegung, wenn ich mal einer Sache, die wir total gewohnt sind, nämlich Porzellan „ist Schneeweiß", wenn wir das mal anders machen, dass sie damit ganz viele Probleme lösen konnte. Ich habe aber auch ein anderes Beispiel von einer Studentin, die saß bei mir im Seminar und wir haben dann eben über die Kolonialität der Formgebung in Deutschland gesprochen und hat sie erzählt, dass sie mal als Projekt ein Haulerspiel gestalten sollte und das sah für sie "orientalisch" aus, in Anführungsstrichen. Auch schon das ist ja ein sehr problematischer Begriff und für sie war dann sofort klar, das muss halt modernisiert werden und sie hat dann die Formgebung reduziert und so weiter und am Ende sah es halt modern und in Anführungsstrichen "zeitgemäß" aus und sie hat dann gesagt, eigentlich wäre das beste Design gewesen, da einfach überhaupt nichts zu machen, sich mal auseinanderzusetzen mit dieser anderen Formsprache und zu schauen, wo geht das dann hin? Was passiert das? Und ich glaube, es geht am Ende gar nicht darum, dass alle Personen, die hier als Designerinnen ausgebildet werden oder die die hier praktizieren, jetzt gestalten sollen, als kämen sie aus Westafrika. Das ist natürlich völliger Quatsch, sondern ich glaube, es geht darum, bestimmte Hierarchisierungen aufzulösen. Das heißt, einfach diese ästhetische Autorität, die Design noch immer hat, die infrage zu stellen und überhaupt wieder mit einem großen Respekt und einer großen Anerkennung an andere Gestaltungstraditionen heranzutreten, und zwar ohne sie zu dort aneignen und ausbeuten zu wollen, sondern einfach zu verstehen, es gibt unglaublich viele Wege zu gestalten. Und es gibt eben nicht diese eine universelle Formsprache zum Beispiel, die gut ist.

00:24:58: Eliane Gerber Jetzt ist in der Art und Weise eben, was du jetzt sagst, ist ja auch wieder ein Stück weit diese kolonisierende Haltung oder die Perspektive eben, die weisse Perspektive zur Geltung, über die wir jetzt auch sprechen, dass es eben darum geht, sich nicht bei anderen zu bedienen. Was für Ansätze gibt es da, denn spezifisch für Menschen, die Nachkommen sind von eben kolonisierten Ahnen? Und ich glaube, das sind zwei grundsätzlich mal sehr unterschiedliche Perspektiven. Da gibt es noch viele Menschen, die irgendwie von beidem auch geprägt sind. Wie kommen diese Perspektiven in Kontakt und wie schaffen wir es auch im Diskurs, dass wir eben dann nicht direkt nur die eine weiße Perspektive oder die Perspektive der Kolonisierenden oder der zuvor Kolonisierenden einnehmen?

00:25:56: Mara Reklies Einnehmen können wir natürlich immer nur die eigenen Perspektive, aber wir können natürlich andere zur Kenntnis nehmen.

00:26:02: Eliane Gerber Oder einfach nur die Perspektive im Diskurs zulassen oder die zum Hauptfokus machen. Damit repetieren wir ja das eigentlich irgendwie auch.

00:26:12: Mara Reklies Durchaus. Das ist, glaube ich, ein großes Problem der weißen Mehrheitsgesellschaft, dass wir natürlich mehrheitlich weiß sind und mehrheitlich weiße Perspektiven haben. Und das ist unglaublich schwer oder ein ständiges Problem, andere Perspektiven zuzulassen und dabei Tokenism zu vermeiden. Und ganz funktioniert das natürlich auch nicht, eben weil wir mehrheitlich weiß sind. Und ich kenne das von Personen in meinem Bekanntenkreis, die zu dem Diskursfeld forschen oder zumindest in der Nähe des Diskursfeldes sind und immer wieder angeragt werden für Podiumsdiskussionen weil eben eine Person of Color noch benötigt wird, damit nicht eine weiße Person da sitzt. Und das ist ein Problem. Darüber müssen wir auch sprechen. Das bleibt auch problematisch und das können wir so einfach nicht auflösen. Ein Beispiel, das ich neulich schon in einem Podcast gegeben habe, ist eine Podiumsdiskussion, die habe ich mit zwei Kolleginnen gemacht, anlässlich einer Veröffentlichung. Da ging es die Dekolonisierung der HfK Bremen, der Hochschule. Und da hatten wir ein Projekt gemacht und einen Dialog veröffentlicht. Als Poster zusammen mit Xi Yü Tomorrow und Cornelia Lund. Und bei unserer Präsentation hatten wir dann das so organisiert, dass ich im Publikum saß und Xi Yu, die einen chinesischen Background hat, saß auf dem Podium zusammen mit Imad Gabriel. Das ist ein Freund und Kollege von uns und die haben sich unterhalten und moderiert von Cornelia Lund. Und ich habe dann auch Imad und Xi Yu die Frage gestellt: „Wie können wir damit umgehen? Ich sitze jetzt gerade im Publikum, weil ich weiß bin und möchte, dass ihr, weil ihr nicht weiß seid, auf der Bühne sitzt, auf dem Podium und diskutiert. Und diese Haltung von mir, „Ich trete zurück, damit ihr gehört werdet", fördert genau das, was wir auch verhindern wollen, nämlich eben tokenism. Und Xi Yu hat dann gesagt: „Das ist ein Problem und das ist so, und ihr ist bewusst, sie sitzt gerade auf der Bühne, eben weil sie nicht weiß ist und sie findet dafür keine Lösung." Sie findet es aber besser, wenn sie auf der Bühne sitzt in dem Moment als andere Person und sie hat gesagt: „The only possibility is to struggle forward." Wir können es dann nur vorwärts kämpfen und es läuft nicht gut, aber halt irgendwie weitermachen. Und Imad hat zu mir gesagt, er findet das völlig in Ordnung, wenn weiße Menschen eben zurücktreten und sagen: „So, die Bühne gehört jetzt nicht weißen Menschen", solange sie nicht ihre Karriere darauf gründen. Und das ist eben diese Kritik, die ich auch schon am Anfang angemerkt habe, was halt auch sehr häufig passiert, dass einfach weiße Menschen sich gerne in diesem Diskursfeld dekoloniale Theorie bewegen wollen, aber sagen: „Wir dürfen ja nichts machen. Wir sind ja weiß, es geht ja ums Zuhören" und dann quasi ihre Karriere darauf gründen, dass sie halt BIPOC-Publikationsmöglichkeiten geben, die zu ihren Podcasts einladen und so weiter, aber sie machen eigentlich gar nichts. Also sie sind so an der Schnittstelle, aber sie forschen gar nicht mit und das ist unangenehm und dann eben sehr nah dran an diese Form von epistemischer Ausbeute, weil man eigentlich gar keine theoretische oder dekoloniale Arbeit leistet, sondern sie ist ein bisschen im Glanz der anderen sonnt. Wie man das aber tatsächlich anders machen kann oder wie man anders gestalten kann? Ich glaube, einmal zeigt es die Arbeit von unglaublich vielen Menschen. Auch mein Netzwerk besteht ja nicht nur aus weißen Menschen, sondern natürlich auch anderen Menschen. Und dieser Dialog zwischen uns ist ja ein ganz wichtiger Teil davon. Und auch die Theorie, auf die ich mich beziehe, das ist nicht nur eine Theorie von weißen Menschen und das ist ja absolut in Ordnung, sich mit anderen Gestaltungskulturen zu beschäftigen und mit anderen Theorien zu beschäftigen, solange man sie eben nicht als die eigene ausgibt. Also so Praktiken wie zum Beispiel ein Bewusstsein für Citational Justice, dass man wirklich darauf achtet: Wessen Inhalte benutze ich gerade?Sage ich auch wirklich, von wem ich das habe? Vereinahme ich das gerade? Tue ich gerade so, als wäre das meine Theorie? Oder mache ich gerade die Person, von der diese Theorie stammt, die da geforscht hat? Mache ich die gerade klein? Mache ich die gerade unsichtbar? Oder gebe ich der Sichtbarkeit? Und wenn ich natürlich eine unglaublich gute Forschung finde von anderen Personen, denn natürlich, ich bin ja am Ende der Wahrheit verpflichtet, dann nutze ich die, aber achte eben drauf einfach, dass klar ist, von wem es stammt und dass die Person auch weiter dafür stehen kann, auch wenn ich diese Inhalte nutze. Und es gibt ja dieses ergänzende Konzept zu dem, was man als kulturelle Aneignung oder Cultural Appropriation bezeichnet, nämlich die kulturelle Wertschätzung, also die Cultural Appropriation. Und dagegen ist ja nichts einzuwenden. Das ist ja fantastisch. Das sollen wir ja. Es soll ja interkulturelle Begegnung geben. Es ist ja wichtig, dass wir uns gegenseitig beeinflussen, dass wir uns verändern, dass wir einen Dialog eingehen. Es soll ja nicht jeder sein eigenes Süppchen kochen. Aber ein kulturell wertschätzender Umgang ist eben was ganz anderes als ein kulturell ausbeutender Umgang. Es gibt eine ganz fantastische Designforscherin und Designanthropologin, Dorit Thunstill heißt die. Das ist die erste schwarze Dekanin überhaupt von einer Kunsthochschule und die ist an der OCAT in Kanada und die hat ein Buch geschrieben und das heißt „Respectful Design." Und da geht es genau darum: Wie kann man gestalten, zum Beispiel mit Mustern oder mit Gestaltungsideen, Indigener Communities? Wie können wir denen begegnen? Und wie können wir mit denen kommunizieren? Weil, wie können wir das machen? Wie können wir eben „Respectful" dafür sorgen, dass Kultur miteinander in einen Dialog treten, gestalterisch oder im Design?

00:31:41: Arno Görgen Worüber wir jetzt sprechen, das sind ja alles Akteure und Akteurinnen, die sich dieser Rolle und dieser Position in diesem Kontext bewusst sind. Ich bin jetzt kein Designer, sondern Kulturhistoriker und ich frage mich die ganze Zeit: „Was ist denn mit denen, die – und das wird die große Mehrheit sein – diese kolonialistischen Praktiken unbewusst umsetzen?" Das heißt, die, die das Design zu machen, wenn man es immer so gemacht hat, die einfach diese Episteme so internalisiert haben, dass da auch, wie in Form eines Mythos, gar kein großes Nachdenken mehr über die Inhalte, die man reproduziert, stattfindet? Wie geht man damit um?

00:32:35: Mara Reklies Du meinst im Sinne von, wie kann man die erreichen oder was sollen wir über die denken?

00:32:39: Arno Görgen Ja, das ist eine Frage, aber ich tue mir schwer damit, zum Beispiel kritisch mit solchem Design dann umzugehen und es als kolonialistisch zu bezeichnen. Also es ist sicher so, aber es dann auch so zu benennen, wenn die Leute, die es erschaffen haben, eigentlich gar nicht diese Agenda verfolgt haben.

00:33:06: Mara Reklies Also es geht mit Sicherheit auch im Kontext meiner Theorie nicht darum, bestimmtes Design als kolonial oder kolonialistisch zu prägen oder das abzuwerten. Und es spricht grundsätzlich überhaupt nichts dagegen, zum Beispiel weiterhin so zu gestalten, dass man erkennt, diese Gestaltung ist zum Beispiel vom ästhetischen Funktionalismus beeinflusst. Das kann man gerne machen. Auch ich persönlich fühle mich durchaus angesprochen von so einer Gestaltung. Ich bin sozialisiert damit, dass das guter Stil ist. Auch ich habe das internalisiert. Auch meine Wohnung sieht so aus, dass man das erkennt und es ist absolut in Ordnung. Dagegen spricht nichts. Es wird problematisch, wenn wir andere Stile abwerten. Ich wohne in Berlin, in Neukölln, in der Nähe der Sonnenallee. Wenn ich dort langlaufe und sehe, was dort verkauft wird, dann sehe ich eine wahnsinnig große Bandbreite ganz anderer Stile und zu verstehen, das ist eben nicht schlechter Geschmack, das ist nicht irgendwie arabischer Kitsch oder ich will jetzt aufhören mit dieser Negativzuschreibung, aber die werden eben gemacht. Und das aufzugeben, darum geht es. Es geht nicht darum, wie schon gesagt habe, dass wir jetzt nicht mehr reduziert gestalten dürfen oder so was, sondern einfach so etwas wie eine stilistische oder formal-ästhetische Pluralität zuzulassen. Das ist entscheidend. Und es ist ja jetzt auch nicht so, dass eben Menschen, die das noch nicht reflektiert haben und so gestalten, von Grund auf kolonial sind oder wenn sie das reflektiert hätten, das dann befürworten würden und sagen würden, sie wollen so weitermachen. Aber es ist natürlich so, dass es grundsätzlich wünschenswert wäre, dafür ein Bewusstsein zu schaffen, auch einfach so einer stilistischen Vereinheitlichung der Welt Einhalt zu gebieten, die natürlich wahnsinnig schnell voranschreitet. Und ich glaube, es tut insbesondere Designer:innen, die in Europa geboren sind oder in den USA und einfach ästhetisch unwahrscheinlich privilegiert werden auf der Welt, tut das gut, mal davon zu erfahren, dass sie eben diese ästhetische Privilegierung die ganze Zeit genießen und sich da hineinzuversetzen, wie das ist, wenn man diese ästhetische Privilegierung zum Beispiel nicht hat.

00:35:18: Eliane Gerber Jetzt eben hast du gerade den Begriff „Ästhetische Privilegierung" genannt. Kannst du noch ein bisschen mehr dazu sagen, was damit gemeint ist und wie sich das zeigt, Worin man das erlebt? Vielleicht mit ein paar kurzen Beispielen?

00:35:33: Mara Reklies Ja, sehr gerne. Meine ästhetischen Privilegien, für alle, die mich gerade nicht sehen können, sage ich mal kurz, wie ich aussehe. Ich bin weiß, ich habe blonde Haare und ich habe gerade einen schwarzen Pullover, was man jetzt auch nicht sehen kann. Ich habe eine schwarze Jeans an und wenn ich jetzt rausgehe, ziehe ich mir noch einen schwarzen Mantel an und wahrscheinlich ein paar Sneaker. Und wenn ich so gekleidet bin, kann ich überall auf der Welt erscheinen und meine Kleidung ist in Ordnung, ist angebracht. Wahrscheinlich recht unauffällig. Ich habe einen Pony, ich habe einen Zopf, ich habe gerade noch eine Brille auf mit einem transparenten Gestell. Mit diesem Outfit kann ich überall auf der Welt erscheinen. Es ist stilistisch, geschmacklich, völlig in Ordnung. Würde ich jetzt was anderes tragen? Würde ich jetzt einen Sari tragen oder hätte ich zum Beispiel jetzt Afro Hair? Dann wäre es schon wieder was anderes, ob das immer angebracht wäre, ob das nicht irgendwie eine Tradition... Der Begriff des Traditionellen ist auch schwierig, weil er eben dieses „zurückgebliebene" Alte im Gegensatz zum "Fortschrittlichen" markieren soll. Dann wäre ich aber nicht immer adäquat kleidet, überall auf der Welt. Dann wäre meine Frisur nicht immer adäquat.

00:36:48: Mara Reklies Und die Kleidung, mit der ich mich wohlfühle, die Art, wie ich meine Wohnung einrichten möchte, das ist überall auf der Welt in Ordnung. Das ist als Standard irgendwie, als der westliche Standard, akzeptiert. Da sind wir zum Beispiel bei den Airbnbs, die überall im Skandi Style sind. Das ist in Ordnung. Auf die Mehrheit der Welt trifft das nicht zu. Die haben eine Kleidung, die in einem Großteil der Welt als traditionell gelesen wird. Meine Kleidung wird nirgendwo als traditionell gesehen. Das ist eben die moderne westliche Kleidung, das "Normale". Und das ist eine ästhetische Privilegierung.

00:37:24: Eliane Gerber Also das einerseits als Norm gilt auch, wie mein Körper aussieht. Und das als eine ästhetische Privilegierung, dann, dass die Dinge oder die Kleidung, die Designs, die ich gewohnt bin, zu denen ich eine Affinität habe durch meine Sozialisierung, dass die global auch als "höherwertig" beurteilt werden in einer Hierarchie drin. Und dass meine eben auch ansozialisierten Theorien über Design, guten Geschmack und so weiter, dass die als Norm gelten.

00:38:02: Mara Reklies Ja, genau. Das könnte man so sagen. Man erkennt das zum Beispiel auch daran, dass an wahnsinnig vielen Orten auf der Welt Schuluniformen westlich sind, weil das eben das Adäquate ist oder Haare, wenn sie so straff, insbesondere für Menschen mit langen Haaren, wenn Haare so straff zusammengebunden sind, dass man eben nicht erkennt, sind sie lockig, haben sie eine andere Struktur als mein nordeuropäisches Haar, dass das als das Adäquate, das Angebrachte gilt, eben das... Weil da ganz klar einfach, dass ein eurozentrischer Standard als das Vorbild gilt.

00:38:37: Eliane Gerber Auch innerhalb unserer mehrheitlich weißen Gesellschaften gibt es ja auch da noch zusätzliche Hierarchien, z. B. in Bezug auf ökonomischen Status und so weiter, die mit bestimmten Ästhetiken verbunden sind.

00:38:50: Mara Reklies Ja, und natürlich auch, wenn wir schauen wieder auf patriarchale Ordnung, dass natürlich, also im Zweifelsfall ist eine Hose für Menschen aller Geschlechter eher akzeptabel als jetzt ein rosa Kleid oder so was. Also diese ästhetischen Privilegierungen unterliegen natürlich, wie die meisten Dinge, den vielen intersektionalen Kategorien.

00:39:10: Eliane Gerber Genau, und auf dieses Thema der Intersektionalität, mit dem beschäftigst du dich ja auch. Kannst du darüber noch ein bisschen mehr sagen?

00:39:17: Mara Reklies Da sind wir schon wieder bei einem Thema, das ganz eng damit verwandt ist. Wir können mal gleich mit Geschmacksfragen weitermachen, weil mich das eben sehr beschäftigt, diese Frage: Was ist wann ein gutes Design? Aus welchem Grund? Wie etablieren sich Dinge? Und du hast es gerade zum Beispiel angesprochen, dass der ökonomische Status eine große Rolle spielt, also Klassenfragen. Und ich finde es zum Beispiel sehr interessant, wie Farbcodes im Design gelesen werden und wie die genutzt werden. Und auch da gibt es ganz klar eine ästhetische Priorisierung von den sogenannten reduzierten Farben. Das ist ja Nach dieser eurozentrischen Vorstellung ist jetzt zum Beispiel weiß eine sehr reduzierte Farbe, was wieder in anderen Kulturen absurd wäre, aber das ist eben eine Farbe, da haben wir uns drauf verständigt. So sind wir sozialisiert, dass die neutral ist, Museen sind, diese berühmten White Cubes und so weiter und so fort. Und ich finde es sehr interessant, wie auch so Klassencodes kommuniziert werden und wie auch eine bestimmte Abwertung immer wieder stattfindet, eben von bestimmten Farbcodes, die mit unteren Klassen assoziiert werden. Also ich bin darauf gekommen, weil Bell Hooks in ihrem Buch über Klasse den Hinweis gibt, dass sie durch ein Stipendium auf einer Eliteuniversität war und dort sofort aufgefallen ist als Bildungsaufsteigerin, weil sie bunt gekleidet war und die Kinder, die da aus der Bildungselite schon standen, haben den Farbcode beherrscht und waren in reduzierten Farben gekleidet. Die oberen Schichten, die oberen Klassen, die auch festlegen: „Was ist ein ist ein guter Geschmack" und natürlich ist ein guter Geschmack immer der Geschmack der oberen Klassen. Das ist ganz klar. Es gibt auch Fälle in Musikvideos oder so einer Popkultur von so Class Appropriation, wo es dann schick gilt, auf einmal das zu kopieren, zum Beispiel, wie die jungen Männer in der Salée aussehen, aber immer mit dieser ironischen Brechung, was natürlich auch schon wieder eine Form von Abwertung ist. Aber wir können tatsächlich, wenn wir uns mit diesen Dingen auseinandersetzen wollen, genügt es nicht, so eine Kategorie wie zum Beispiel "Kolonial" zu nutzen. Das Das ist immer nur so ein Teil der Geschichte. Es ist ganz wichtig, noch andere Kategorien zu berücksichtigen, wie das die intersektionale Theorie macht. Insofern ist es eigentlich sehr aussagekräftig, immer wieder mit der intersektionalen Theorie auch zu arbeiten.

00:41:46: Eliane Gerber Kannst du ein bisschen mehr zur intersektionalen Theorie sagen, was das umfasst und was da die wichtigen Annahmen sind oder die wichtigen Erkenntnisse?

00:41:55: Mara Reklies Also diese intersektionale Theorie, der ist quasi aufgefallen, dass bestimmte Personen mehrfach diskriminiert sind und dadurch nicht in Erscheinung fallen. Also das hat sich entwickelt am Beispiel einer Fabrik, die massiv schwarze Frauen schlechter behandelt hat und wenn darauf verwiesen wurde, „Ihr habt keine schwarzen Menschen", oder bei euch als Arbeiter, dann hieß es doch, „Wir haben doch schwarze Männer." Und wenn es hieß: „Was ist mit den Frauen? doch, wir haben ja weiße Frauen." Und die schwarzen Frauen, die sind so wie durch das Raster gefallen. Und es gibt oft das Vorurteil, dass es in der intersektionalen Theorie darum geht, dass sich so die Diskriminierungsformen immer addieren. Und das ist so ein bisschen das, was aus dem Ideal manchmal behauptet wird, dass es dann so Oppression Olympics wären. Darum geht es überhaupt nicht, also zu gucken, bei wem addiert sich das Meiste, sondern wer fällt durch das Raster? Wo werden Kinder nicht berücksichtigt? Zum Beispiel, wenn wir jetzt von Form des Adultismus ausgehen oder so. Wenn wir schauen, Kinder werden gefördert, welche Kinder werden gefördert, welche Kinder werden nicht gefördert, welche Kinder werden wo privilegiert und welche werden diskriminiert.

00:43:12: Eliane Gerber Vielen Dank, für die Klärung da noch. Gibt es noch was, was du ergänzen möchtest jetzt zu unserem Gespräch? Wir haben viele verschiedene Themen gestreift und da auch sehr konkrete Einblicke bekommen, aber gibt es noch was, was dir sehr wichtig wichtig ist, noch hinzuzufügen?

00:43:31: Mara Reklies Ja, ich möchte unbedingt einen Hinweis geben auf die Decolonizing Design Group im Design. Das ist nämlich eine Gruppe von, jetzt muss ich mal erzählen, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Designwissenschaftlerinnen und Designforscherinnen, die im Design wirklich Pionierarbeit zu dem Thema geleistet haben, gegen wahnsinnig viele Widerstände gekämpft haben und die auch auf ihrer Website, ich glaube, das ist tatsächlich decolonizingdesign.com, noch bis heute Aufsätze bündeln, eigene Texte zur Verfügung stellen und die eben eine Perspektive bieten, die nicht wie meine, diese Weiße ist und für die die Dekolonisierung von Design auch etwas anderes bedeutet wie für mich. Und ich glaube, das ist jetzt darauf hinzuweisen und den Hinweis zu geben, dass diese Perspektive, die ich jetzt gerade geschildert habe, nicht die einzige ist und dass vor mir andere da waren, die ganz wichtige Arbeit gemacht haben, auch in Institutionen, die sehr dafür gekämpft haben, dass das Thema auf die Agenda kommt im Design. Das ist mir ein ganz wichtiger Hinweis.

00:44:34: Arno Görgen Ich habe jetzt viel geschwiegen, weil ich vor allem zugehört habe und ganz viele Denkanstöße bekommen habe. Und ich habe die ganze Zeit das Gefühl, wir könnten auch eine komplette Staffel mit dir füllen.

00:44:48: Mara Reklies Es gibt auch so viel zu dem Thema zu sagen. Weil es ist tatsächlich sehr, sehr, sehr komplex und es gibt vor allen Dingen noch wahnsinnig viel zu tun. Das ist wahrscheinlich abschließend, was ich sagen könnte, ist eine Einladung an alle aussprechen, die sich mit dem Thema befassen möchten. Es gibt so viel Forschung zu tun. Es gibt so unglaublich viel noch herauszufinden, zu lernen. Kommt alle zu uns in die Disziplin und macht mit, macht mit, hilft uns. Es gibt viel zu tun. Wir brauchen jeden, der mitdenkt und auch jede.

00:45:21: Arno Görgen Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum es unseren Podcast zum Beispiel überhaupt gibt, einfach zu zeigen, dass das Thema einfach so reich ist, also nicht nur deines, Mara, sondern überhaupt Designforschung und alles, was damit zusammenhängt, auch hier dieses Vernetzte. Ich habe, glaube ich, nachher tausend Fragen, die mir jetzt schon so ein bisschen durch den Kopf schießen und das geht euch, lieben Zuhörer*innen, vielleicht auch so. Wenn ja, schickt uns gerne eure Fragen und eure Gedanken. Wir würden sie auch an Mara weiterleiten. Und erst mal an dieser Stelle wirklich einen herzlichen Dank. Mein Kopf ist voll mit Gedanken und ich weiß noch gar nicht, wohin mit mir. Also vielen Dank dafür. Das ist ja auch ein schöner Zustand.

00:46:11: Mara Reklies Sehr gerne. Es freut mich, wenn ich dich in den Zustand versetzen konnte.

00:46:16: Eliane Gerber Vielen, vielen Dank für diesen Einblick und auch die sehr pointierten und differenzierten Positionierungen in diesem sehr komplexen Feld, das mit sehr vielen … Wo ich denke, es ist eben gerade dadurch, weil wir so stark geprägt sind in unserem Denken von kolonialen Theorien auch oder kolonialen Grundgedanken, in diesen pointierten und differenzierten Aussagen dann auch darin anzuleiten, wie wir über das Thema sprechen können, ohne ständig in diese Fallen zu fallen. Dafür ganz einen herzlichen Dank.

00:46:51: Arno Görgen Und ihr, liebe Zuhörer*innen, findet jedes Mal die wichtigsten Quellen und dieses Mal gibt es derlei ja zahlreiche und Hinweise zum Thema in unseren Shownotes. Wie gesagt, wenn euch die Sendung gefallen hat, lasst es uns gerne wissen. Wir freuen uns über jegliches Feedback. Wir hören uns in rund vier Wochen wieder in einem Monat. Bleibt bis dahin gesund. Es ist ja die Zeit der Erkältungen. Und ganz liebe Grüße. Tschüss.

00:47:20: Eliane Gerber Tschüss.

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